Der Dorfstreit in Niederscheld 1889
erzählt von Arno W. Brück †
Einleitung:
An einem wunderschönen Mittwochnachmittag im Mai 1978 mussten wir den Alterskameraden Helmut Freund beerdigen.
Geboren am 31.12.1928 zu Dillenburg, gestorben nach unmenschlichen Leiden am 13.05.1978 in Niederscheld.
Friede sei mit ihm - er war ein feiner Kerl!
Was vor Jahrhunderten die Schwarze Pest und andere Seuchen waren, das ist heute der schleichende, ungenannte Schrecken unserer Zeit,
den jeder fürchtet, aber keiner beim Namen nennen will: Krebs!
Als wir später zu dritt, Walter Ebert (Dimisse Walter) Otto Korf und ich ziemlich bedrückt den Niederschelder Friedhof abwärts gingen,
kamen wir an drei Reihen Gräber von 1945 vorbei, welche eingeebnet werden sollten.
Walter Ebert blieb bei einem Grab stehen und sagte:
"Daß aal Schudt'sche, dej Fraa wor ach erscht 53 Juhr, als se storb. Genau so aal, wej aich etz sei".
Dabei sah er auf den Grabstein von Katharina Schudt, geboren 20. Juli 1892 und gestorben am 4. Dezember des Jahres 1945.
Nachdenklich sahen wir uns die anderen Gräber an und ich sagte:
Enn hej links leid dr letzt von den, dej 1889 als jonge Bursch dabej worrn, wej de Gebreurer Benner gestorwe sei!"
Das war die letzte Ruhestätte von August Heinrich Schäfer.
Geboren am 29. November 1867 und gestorben am 19. Dezember 1945.
Ich selbst habe ihn noch gut gekannt, denn 1945 war ich 17 Jahre alt, ein Alter, in dem man heute schon fast großjährig ist.
Außerdem fielen mir die vielen, vielen "Dorfverzeelcher" ein,
welche mir meine Urgroßmutter, Elisabeth Schumacher, gestorben Spätherbst 1938 erzählt hatte,
wenn ich als kleiner Junge zu ihren Füßen auf einem kleinen Schemel saß.
Als wir unten an der offenen Friedhofskapelle vorbeikamen,
lag dort einsam und verlassen der Schleifen-Kranz eines Schelder Vereins,
der während der Trauerfeier sicher auch an Helmuts Grab niedergelegt werden sollte.
Da sagte ich:
"Do leit aaner vo den ville Gründe, worimm de Schelder Vereine net mie so richdisch zureecht komme.
Eigentlich is Scheld su als lebendiges Gemeinwese schu 1945 gestorwe.
Mir ho dess nur allweil net gemerkt, enn ach net wuhr ho wolle, fier lauter offbaue, erwe und schufte.
E Gemaa, dej 1974 zur 700 Juhrfeier kaa 20.000 Mark offbringe konnt,
imm e richdisch Zelt offzustelle enn e Bloosmusik ze bestelln.
2 Juhr spärer ower 300.000 Mark ausgob, imm em Letzelmuch Berje zu versetze, dej wor reif für de Offlösung!
Enn de Eingemeindung am 1. Januar 1977 no Delleborg wor nur de letzte Punkt dess Schelder Debakel.
Bei de Dilleborger Dellerlecker basse mer Schelder Grußmäuler ro richdisch bei.
Fir 90 Juhr ho de Leu annersch zesomme gehalln, enn dess schaffte se ohne Radio, Auto enn Fernsehn.
Owwer wahrscheinlich grod deshalb, weils all des net gob!"
Wir Schelder können auf die Mai-Tage des Jahres 1889 wahrhaftig nicht mit Stolz zurückblicken.
"Aber auch die Torheiten, Fehler und Irrtümer gehören zu einem ehrlichen Geschichtsbild
und dürfen nicht übergangen oder verschwiegen werden" (Dr. Herbert Maas).
Wer so borniert ist, zu glauben, das Ansehen des Fleckens Scheld,
die Schelder "Reputation" leide durch die nachfolgende wahre Geschichte, der soll gar nicht erst weiter lesen.
Wer aber die Wahrheit, wenn auch vielleicht eine unbequeme und lästige Wahrheit erfahren will und vertragen kann,
der wird sein Wissen um Schelder Art, Sitte, Denkweise und Eigenart sicher beträchtlich und sicher nicht zu seinem Schaden erweitern.
Wolken ziehen herauf
"Der Nagelschmied ist auch ein Mann,
den keiner gut entbehren kann.
Er macht für Stiefel und für Schuh,
die Nägel ohne Rast und Ruh".
Unter diesem Motto soll am 31. August 1909 im Festzug des Landwirtschaftlichen Festes zu Herborn
zum letzten Mal ein Nagelschmiedewagen aus Niederscheld mitgefahren sein.
Aber das war schon der Abgesang eines Handwerkzweiges, der nicht mehr unbedingt gebraucht wurde.
Nach einem nochmaligen und bescheidenen Neubeginn nach dem 1. Weltkrieg war der Anschluss verpasst worden
und das endgültige Ende war nicht aufzuhalten.
Dazu trug bei, dass die Nagler zum Teil nicht harmonierten, deshalb konnten keine Spezialmaschinen angeschafft werden.
Zum zweiten ging der Absatz der Nägel rapide zurück.
Dazu trug das Aufkommen von Gummisohlen an Schuhen und Stiefeletten, besonders aber von Soldatenstiefeln bei.
Die Blütezeit des Nagelschmiede-Gewerbes in Niederscheld lag mindestens 40 bis 50 Jahre zurück.
In diesem Zeitpunkt kam es durch zugezogene Familien anderen Glaubens, änderungen des sozialen Gefüges,
(die Nagler wurden z.T. von den Händlern nur in Naturalien bezahlt
oder die Nagelschmiede gingen selbst mit grauen Leinensäckchen voll mit Nägeln über Land),
durch Trunksucht oder richtiger gesagt: Suff übelster Art zu Aggressionen und mehreren Zusammenstößen im Dorf.
Der ärgste, weitesten Kreise bekannt gewordene Fall war die Totschlagaffäre am Abend des 19. Mai 1889,
in deren Verlauf zwei Söhne der Nagelschmiede-Familie B. erschlagen wurden.
Noch nie waren die Schelder Burschen reine Engel gewesen und sie gedachten auch keine zu werden.
Doch im Frühjahr des Jahres 1889 war es in Niederscheld besonders schlimm:
Die drei Gebrüder B. reagierten ihre Komplexe ab, die Schelder "Halbstarken" reagierten entsprechend zurück;
die einzelnen Vorfälle häuften sich, steigerten sich von Mal zu Mal, trieben unaufhaltsam weiter,
und das tragische Ende war eigentlich schon unvermeidlich vorprogrammiert.
Das Oberhaupt und der Vater der urwüchsigen Familie war der ganz umgängliche Nagelschmied Peter B.
Geboren war er am 21.07.1833 in Niederscheld und am 04.08.1833 daselbst getauft,
als Sohn des Nagelschmiedes Johannes B. und dessen Ehefrau Gertrud aus Langenhahn.
Er wurde im katholischen Glauben erzogen. Ob er Geschwister hatte, ist nicht bekannt.
Als 24 jähriger heiratete er am 08. November 1857 die am 22. April 1835 geborene Anna Margarethe Johannette D.,
evangelische Tochter des Landmannes Johann Jost D. und der Katharina Elisabeth, geborene Pf., beide aus Niederscheld.
Seine Ehefrau starb ihm aber bereits am 31. Mai 1875 an der Auszehrung.
Beerdigt wurde sie am 2. Juni 1875 vom evangelischen Kaplan Schreiner aus Dillenburg.
So stand Peter B., der keine neue Ehe einging, mit vier mehr oder weniger, wahrscheinlich weniger,
folgsamen Kindern in einer kalten abweisenden Welt.
Dadurch blieben die Jungen sich viel zu viel selbst überlassen, was ihrer Entwicklung bestimmt nicht förderlich war, wie wir noch sehen werden.
Als der fleißige Peter B. am 18. Mai 1910 im Alter von 76 Jahren nachmittags um 5 Uhr in seinem Haus starb,
waren seine Vermögensverhältnisse angeblich nicht die besten,
und auf seinem Haus im Hammerweg (später Haus Hilde M.) lagen Belastungen.
Aber wir sind der Zeit vorausgeeilt und wollen chronologisch vorgehen.
Als erster seiner Söhne heiratete lt. dem Dillenburger Ehestandsregister am 8. Juli 1888 der Nagelschmied Christian Heinrich B.,
evang. geboren am 21.Januar 1860 zu Niederscheld die Hermine Louise, geb. Sch. evang, geboren am 18. April 1871 zu Ballersbach.
Trauzeugen waren, was auf eine mindestens sehr gute Bekanntschaft hindeutet,
welche sich ein Jahr später in Hass verwandelt hatte:
1. Maurer Heinrich Carl Sch., 26 Jahre alt
und
2. Maurer August Friedrich Pf., 23 Jahre alt.
Damit hätte eigentlich einer bescheidenen Idylle nichts im Wege gestanden.
Doch es kam anders, und über die tieferen Gründe wissen wir sehr wenig, fast nichts.
Von den Gebrüdern war es besonders der älteste, 1858 geborene einäugige Fritz,
welcher abends im Dorf umher ging und den verschiedenen Burschen auflauerte,
wenn diese fröhlich pfeifend und nichts ahnend von ihren Mädchen kamen.
Damals konnten weder Transistor-Radios noch das Fernsehen Liebespaare vom uralt ewig jungen Spiel der Liebe abhalten.
Das war die Zeit, als man in weiten Volkskreisen noch Lieder wie folgende sang:
"Wie scheint der Mond so schön auf jener Höh',
wenn ich zu meiner Feinsliebchen geh'.
Vor ihrem Fensterlein, da bleib ich stehn, ja stehn,
vor ihrem Fensterlein, da bleib ich stehn.
Wer ist da draußen und klopfet an,
der mich so leise aufwecken kann?
Ich steh nicht auf, lass dich nicht ein, ja ein,
weil meine Eltern noch nicht schlafen sein,
weil meine Eltern noch nicht schlafen sein.
Du wirst noch weinen und traurig sein.
Du wirst noch sagen, oh weh, oh weh, oh weh,
mein lieber Heinrich, bleib bei mir stehn!
Du wirst noch sagen, oh weh, oh weh, oh weh,
mein lieber Heinrich, bleib bei mir stehn!
Solche Besuche und Techtelmechtel dehnten sich oft länger aus,
und es war je nach Mondstand und Bewölkung meist stockdunkel, wenn ein Bursche unverhofft angefallen wurde.
Jeder neue Fall machte rasch die Runde im Dorf, und die allgemeine Empörung und Verbitterung wuchs ständig.
Das Drama
Am Abend des 19. Mai 1889, einem schönen Sonntag,
war der 31jährige Fritz B. wieder einmal mit seinem Nagelschmiedehammer im Ort unterwegs,
um die Schelder Burschen das Fürchten zu lehren und ihnen die sonst verweigerte Anerkennung abzunötigen.
Als in dieser angeheizten Stimmung in der Wirtschaft Menger (beim Bettche) in der Neugasse 32 erzählt wurde,
dass der schon erwähnte August Heinrich Sch. von einem B. gestochen worden sei,
was aber, wie sich später und viel zu spät herausstellte, nicht stimmte, brach der allgemeine Aufruhr los.
Die Volksseele kochte über, und es hieß: "Etz off se!"
Fritz B., der in der Zwischenzeit gemerkt hatte, dass sich etwas Ungewohntes, Unheimliches und Gefahrdrohendes zusammenbraute,
rannte nach Hause in den Hammerweg und weckte seine beiden jüngeren Brüder Heinrich und Theodor.
Mit diesen als Verstärkung kam er wieder in das Dorf gelaufen, und das war, wie wir heute wissen, ein verhängnisvoller Fehler!
Denn alle drei konnten sich wohl nicht vorstellen, dass sie,
die bisher nachts fast unangefochten die Schelder Straßen und Gassen beherrscht hatten,
schlagartig einer geschlossenen Front fast aller ledigen Schelder Burschen gegenüberstanden und es nun um Leben und Tod ging.
Im mittleren Ortsbereich begannen in der Dunkelheit, da Straßenbeleuchtung hier noch nicht bekannt war, ein wüstes Rennen und Jagen.
Der August Pf. zum Beispiel wurde von einem der B.'s aufs Wäldchen gejagt und konnte ihm dort nur mit knapper Not durch einen recht engen Winkel entwischen.
Gegen 23.15 Uhr kam es vor dem Waagen- oder Leiterhäuschen,
welches dem jetzt verschwundenen alten Rathaus vorgebaut war, auf dem Backhaussteg zum großen entscheidenden Zusammenstoß.
Die vor dem Haus des ehemaligen Schultheißen Gottfried Hofmann
(er war von 1842 bis 1848 im Amt, Nachkommen tragen noch den Hausnamen "Schultheiß", später wohnen die Familien Haus und Dietrich darin)
liegenden Reiserprügel kamen den zur Raserei getriebenen Schelder Burschen gerade recht zum Drauf- und Dreinschlagen.
Man hörste ein Laufen und Rennen - Schläge - Stöhnen - einige Schreie, dann Röcheln, nochmals einige dumpfe Schläge und Tritte und dann,
außer einer atemlosen Stimme, die sagte: "Gout, dass de duut sei!" nichts mehr in der finsteren Nacht.
Mein Großvater, Heinrich Maage, der damals 19 Jahre alt war
und von einem Schäferstundchen mit meiner nachmaligen Großmutter Lina, geb. Schumacher kam,
hatte sich in dem Durcheinander hinter die Backhauspumpe geflüchtet und dort, zur Salzsäule erstarrt,
das grässliche Geschehen aus nächster Nähe miterlebt.
Da er einer der ärmeren Familien des Dorfes angehörte,
hat er sich nicht als Zeuge gemeldet und auch später mit keinem Familienfremden über den Hergang der Sache gesprochen.
So groß war der angebliche oder tatsächliche Einfluss der "herrschenden" Familien.
Beim Schreiner Heinrich K. (08.12.1860- 21.05.1938),
der damals mit seiner Frau Auguste, geborene R. (07.06.1869 - 17.06.1950) noch Hauptstraße Nr. 67 wohnte
und schon schlafen gegangen war, rumpelte es kurz danach an der Haustüre.
Einige führende Einwohner baten ihn mit den Worten: "De B. sei duudgeschloh worrn", um eine Tragbahre,
damit die Leichen weggeschafft werden konnten und wichtige Spuren verschwanden.
Damit senkte sich so etwas wie eine stille Verschwörung des Schweigens über das Dorf,
um von seinem imaginären Rufe noch zu retten, was vielleicht zu retten war!
Auch die Mutter des damals 12jährigen Ph. August N., Luise geb. W.
(1846-1914 damals verunglückte sie tödlich bei der Eisenbahn an der Haltestelle Süd),
hatte bei dem Tumult aus dem Fenster ihres Hauses, Hauptstraße Nr. 71, heute Bäckerei Nix, gesehen.
Als unten auf der Hauptstraße einige Burschen ins Oberdorf zogen, frug sie:
"Ihr Jonge, wos es da luus?" Worauf ihr Theodor H. antwortete: "Goll, mer ho sich ridderlich gewehrt!"
Um einigermaßen objektiv zu bleiben und keinem der längst verstorbenen Beteiligten Unrecht zu tun,
enthält sich der Verfasser jeglicher persönlichen Wertung.
Über den weiteren Verlauf der Affäre folgen wir daher hauptsächlich dem "Civilstandsregister der Stadt Dillenburg",
der Zeitung für das Dillthal, im Nachfolgenden kurz Zeitung genannt, und Berichten und Erzählungen von aufgeschlossenen Niederschelder Einwohnern.
In der Nummer 60 der Zeitung vom Dienstag, dem 21. Mai 1889 stand:
Dillenburg, den 20. Mai
"In der vergangenen Nacht wurden in dem benachbarten Niederscheld bei einer Schlägerei zwei dortige Einwohner,
Angehörige der Familie B., erschlagen".
Im Sterberegister Dillenburg 1889 - 1891, Blatt 62 und 63 des Jahres 1889,
steht in freier Reihenfolge ohne Benutzung des vorgedruckten Schemas:
"Dillenburg, den 21. Mai 1889
Dem unterzeichneten Standesbeamten ging heute von dem Bürgermeister zu Niederscheld die Mitteilung vom 21ten Mai 1889 zu,
demzufolge der Nagelschmied, Theodor Friedrich August B., 24 Jahre alt,
evangelischer Religion, geboren und wohnhaft zu Niederscheld, ledigen Standes
und der Nagelschmied Christian Heinrich B., 29 Jahre alt,
evangelischer Religion, geboren und wohnhaft zu Niederscheld, verheiratet gewesen mit Hermine Louise, geborene Sch., ein.
Beide Sohn des Nagelschmiedes Peter B. und dessen verstorbener Ehefrau Anna Margarethe geb. D. zu Niederscheld,
in Niederscheld in unmittelbarer Nähe des Gemeindehauses am neunzehnten Mai des Jahres tausendachthundertachtzig
und neun, nachmittags um elf ein halb Uhr tot aufgefunden worden sind".
Der Standesbeamte: Schultheiß
Das war ja nun, entgegen dem Geschehen, eine recht zahme, neutrale und nichtssagende Mitteilung,
die das offizielle Niederscheld nach Dillenburg geschickt hatte.
Einer der Brüder hatte tot vor den Häusern Hauptstraße 49/51 gelegen, während der andere vor dem Leiterhäuschen am Rathaus lag.
Einem hatte der Bürgermeister den gerissenen Nagelschmiedehammer aus der bereits erkalteten Hand gewunden.
Wann und ob dieser Hammer beim Prozess vorgelegen hatte, ist nicht bekannt.
Ob man damals wirklich im Ernst geglaubt hat,
den Vorfall um der bloßen "Reputation" des Dorfes willen mit vorgetäuschter Einfältigkeit herunterspielen zu können,
entzieht sich unserer Kenntnis.
Im Begräbnisbuch der evangelischen Kirchengemeinde trug der Pfarrer,
der am 22. Mai die gemeinsame Beerdigung der beiden Brüder vornahm, u.a. ein:
B. Christian Heinrich, geboren 24. Januar 1860,
B. Theodor Friedrich August, geboren 27. März 1865
Bemerkung: Im Angriff anderer erschlagen!"
Das konnte er sich leisten, weil einmal damals der Pfarrer noch eine unangreifbare Respektsperson war
und zum anderen wahrscheinlich niemand, höchstens der Kirchenvorsteher, diese Eintragung zu Gesicht bekam.
Es kann aber auch sein, dass er von den allbekannten jahrelangen Querelen in Niederscheld die Nase voll hatte
und seinem Herzen auf diese Art Luft machte.
Die Untersuchungszeit
Die Nr. 63 der Zeitung vom Dienstag, dem 28. Mai 1889 brachte zwei Notizen:
"Dillenburg, den 27. Mai.
In der Nummer 60 ds. Blattes berichteten wir kurz über eine der vergangenen Sonntagnacht zu Niederscheld stattgehabten Schlägerei.
Bei der Verschiedenheit der umlaufenden Gerüchte beschränken wir uns seither auf die erwähnte kurze Mitteilung,
behalten uns indes vor, das Resultat der gerichtlichen Untersuchung seinerzeit vollständig zur Kenntnis unserer Leser zu bringen.
Vorläufig sei noch mitgeteilt, dass sich außer 7 an der Schlägerei beteiligten Schelder jungen Leuten
auch der älteste Bruder der beiden Erschlagenen, Fritz B. sich in Untersuchungshaft befindet."
Auch humoristische Seiten waren bei dieser todtraurigen Begebenheit zu entdecken.
So erzählte "Sommersch Jettche"
(Elise Henriette H. geb. 24.10.1863-31.07.1939)
eine spaßige und sehr beliebte Persönlichkeit im Ort, deren Haus in der Wäldchesstr. Nr. 9 dem "Gleichen" zu lag
und die darum des nachts nichts gehört hatte:
"Aich mach de Montagmorje ess Fiester nom Dörrnhob off, enn saa doch grood so fier mich hie:
Allmächdischer, etz ess dr Börjermaaster öwwergeschnappt!"
Sie hatte nämlich von ihrem Fenster aus den Bürgermeister Heinrich Carl Eduard H.
(geb. 10.05.1843, gest. 06.03.1911) der von 1886 bis 1911 im Amt war, gesehen,
der hastig und verbissen den Weg und die Gosse an den Tatstellen vor den Häusern,
Hauptstr. 49/51 mit viel Wasser und noch mehr Energie schrubbte.
Sie konnte sich durchaus nicht erklären, was er da und warum er es machte.
Der Bürgermeister mochte sich in Verkennung der preußischen Akkuratesse, wie viele Bürger der Illusion hingeben,
dass mit Vertuschen und Schweigen dieser für das Dorf zur damaligen Zeit
als höchst ehrenrührig empfundene Vorfall aus der Welt zu schaffen sei.
Doch das war ein entscheidender Irrtum!
In der Zeitung Nr. 64 vom Donnerstag, den 30. Mai 1889 war zu lesen:
Zu der Niederschelder Doppel-Totschlagsaffäre schreibt der Limburger Anzeiger aus Limburg:
"Verhaftet sind bis jetzt 7 Burschen und zwar:
August Sch.,
Heinrich Sch.,
Theodor H.,
Karl Ch.,
Karl August R.,
Fr. August Sch.
und Fritz B. von Niederscheld.-
Die Bewohner von Niederscheld und die Umgebung ergreifen viel Sympathie für die Angeschuldigten
(natürlich mit Ausnahme des Fritz B.),
da die beiden Totgeschlagenen von allen gefürchtet waren.
Beide waren schon mehrfach bestraft und sollen durch Bedrohungen mit Hämmern den Streit angefangen haben-
Wie wir hören, soll in der GemeindeNiederscheld der Vorschlag gemacht worden sein,
durch Stellung einer entsprechen Caution die Freilassung der Verhafteten,
mit Ausnahme des B., bis zum Termin der Gerichtsverhandlung zu bewirken versuchen".
In Niederscheld waren alle Teufeln los und gingen, wie man zu sagen pflegt auf Stelzen.
In das allgemeine Gefühl der Erleichterung, dass diese Unsicherheit vom Dorf genommen sei,
mischte sich eine fast abergläubische Furcht vor der entsetzlichen Rache,
die die restlichen Mitglieder der Familie B. an den Scheldern - und vielleicht mit Recht - nehmen würden!
Wochenlang patrouillierten die Männer paarweise, als freiwillige Bürgerwehr, abends durch Dorf,
da Peter B. gesagt haben soll: Dej ho mir de Jonge duudgeschloh, den steck aich des Dorf oh!
Aber es wird bekanntlich nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Wohl schwirrten bis zur Verhandlung im August die mannigfachsten und unglaublichsten Gerüchte,
heute sagt man dazu Scheißhausparolen, durch den Ort.
Doch abgesehen von einem Haufen dunklen und drohenden Geschwätzes passierte nichts Ungewöhnliches.
Der Prozess
Als der Niederschelder Bürgermeister im Prozess am 26. August 1889
als einer der ersten Zeugen der Verteidigung gehört wurde, soll er gesagt haben:
"Herr Richter! Wenn ich aufrichtig sein soll, nur drei Worte: "Scheld atmet auf"
Damit war der Prozess praktisch schon für die Angeklagten entschieden und gewonnen!
Die Zeitung berichtete in ihrer Nr. 102, am Donnerstag, den 29. August 1889 über die Verhandlung und deren Ausgang:
"Dillenburg, den 28. August.
Vor der Strafkammer in Wetzlar kam vorgestern unter überaus zahlreicher Beteiligung des Publikums
die Niederschelder Totschlagsaffaire vom 19/20. Mai d. J. zur Verhandlung.
Wegen Körperverletzung mit tödlichem Erfolg, resp. Teilnahme an einer Schlägerei,
durch welche der Tod zweier Menschen herbeigeführt worden ist, wurde Drahtweber Aug.
Fried. Sch., Schlosser Aug. R. und Landmann Theodor H., sämtlich von Niederscheld, zu je 3 Monaten Gefängnis verurteilt,
auf welche jedoch die erlittene Untersuchungshaft (bereits über drei Monate) in Anrechnung kommt.
Der Staatsanwalt hatte,
nachdem Herr Sanitätsrat Dr. Speck und Herr Dr. Winnen
von hier als ärztliche Experten sowie zahlreiche Zeugen vernommen waren,
die Schuld der Angeklagten für erwiesen erachtet,
während der Verteidiger Herr Justizrat Rath, Freispruch beantragt habe,
welchem Antrag der Gerichtshof aber nur für den Fuhrmann Friedrich Sch. und den Ciseleur Heinrich Sch. Folge gab.
Der Überlebende der drei Gebrüder B., Friedrich (Fritz) B.
welcher bei der Schlägerei sein Leben durch die Flucht zu retten verstanden hatte,
erhielt ein Jahr Gefängnis, ebenfalls unter Anrechnung der Untersuchungshaft.
Sämtliche Verurteilten, natürlich mit Ausnahme des Friedrich B. und die beiden Freigesprochenen,
kehrten am Montagabend mit dem 10Uhr-Zug von Wetzlar zurück und wurden am Bahnhof Dillenburg von ihren Freunden und ihren Bekannten,
welche sich überaus zahlreich eingefunden hatten, abgeholt und im Triumph mit Musikbegleitung nach Niederscheld geleitet,
wo noch bis zum frühen Morgen die Rückkehr derselben mit Spiel und Tanz gefeiert wurde.
Wenn auch die Gebrüder B. in der ganzen Gegend als Raufbolde verrufen waren,
wenn dieselben auch die für sie verhängnisvolle Schlägerei selbst veranlasst hatten
und wenn man auch zugestehen muss, dass speziell Niederscheld viel durch die Gebrüder B. zu leiden hatte,
ja dass in der ganzen Einwohnerschaft dieses Ortes die Kunde von dem Tode der Raufbolde nicht ohne Befriedigung
und gewisses Gefühl des Dankes für Erlösung von einer schweren Plage aufgenommen worden ist,
so darf man sich nicht verhehlen, dass die Niederschelder Burschen unberufene Vollstrecker der Justiz waren
und dass ihre Lynch-Justiz vor Gericht die Sühne gefunden hat;
Ein so lauter und ausgelassener Empfang derselben war also wohl nicht am Platze
und wird auch überall von der Sache ruhig Überlegenden missbilligt worden sein".
Das war das gerichtliche Ende vom Totschlag an den Gebrüdern B.
Heinrich, der ältere von beiden, "Dragoner" genannt, weil er in Hofgeismar bei den Dragonern gedient hatte,
soll ein ganz passabler, schneidiger Bursche gewesen sein.
Dagegen sagt man von dem jüngeren Theodor, dass er ziemlich vorlaut und kess war,
einer von der Sorte, die sagen:
"Liehn mer mohl Pfeif en Tuuwack, dohenne kimmt aner, der Fauer hott"
Folgen
Damals ging in Niederscheld ein Gedicht von Hand zu Hand,
welche die zum Teil unklaren und durchsichtig gebliebenen Vorgänge der Blutnacht und ihre Folgen in freier Form behandelte.
Auf dem Dachboden des Arnold Kolb, Hauptstr. 26, hing bis Ende der dreißiger Jahre ein Exemplar davon.
Wie unklar und verschwommen trotz aller Kriminaluntersuchungen und ordnungsgemäß geführtem Prozess
der wirkliche Ablauf der Tragödie geblieben war, geht daraus hervor, dass noch lange Jahre danach das Dorf nicht zur Ruhe kam.
Noch heute erzählt man ab und zu davon in vorgeschrittener Stunde bei Familienfesten.
Jedermann kann sich bei dem Verlag Dill-Zeitung den Zeitungsband des Jahres 1889 geben lassen
und die Richtigkeit der gebrachten Zitate und Berichte nachprüfen.
Den damaligen ständigen seelischen Belastungen war Heinrich Sch., geboren im Jahre 1862
und einer der Trauzeugen von Heinrich B. im Jahre 1888 nicht gewachsen.
Er ging deshalb im Jahre 1892 mit den an der Sache unbeteiligten Auswanderern
Heinrich H., Heinrich Sch., und Georg S. nach Syracuse/Nordamerika.
In Niederscheld war er Maurer von Beruf gewesen, dort drüben arbeitete er als Zuschneider in einer Kappenfabrik.
Er blieb ledig und starb 40jährig, am 12. Dezember 1902 in den USA, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben.
Ein Bild von Heinrich Sch, brachte der verstorbene Lehrer Heinrich R.
im Oktober 1958 in der ersten Fortsetzung einer Artikel-Serie "Auswanderer aus Niederscheld".
Damals konnte es noch geschehen, dass Angehörige der im Jahre 1889 Verurteilten Lehrer R.
ins Haus stürmten und ihm bittere Vorwürfe machten, diese Angelegenheit in einer Auswanderer-Geschichte zu erwähnen.
Zwanzig Jahre später empfinden wir eine solche Geisteshaltung, wenn schon nicht lächerlich,
so doch durchaus unangebracht. Ich zitiere aus dem neuen Testament (Joh:8,7):
"Wer unter euch ohne Schuld ist - der werfe den ersten Stein auf sie!"
Ganz ehrlich, was soll die beschränkte Selbstgerechtigkeit
und die muckerische Lebensauffassung? Wer von uns allen ist ohne jeden Fehl und Tadel?
Und wie ist, so wird der eine oder der andere fragen, das Schicksal der Hauptpersonen weiter verlaufen?
So weit es allgemein bekannt ist, soll es nachfolgend beschrieben werden.
Fast alle anderen Beteiligten heirateten früher oder später und führten ein landläufiges Familienleben.
Die junge Witwe des Heinrich B., Henriette heiratete in zweiter Ehe,
nach dem Dillenburger Ehestandsregister am 6. Juli 1893 ihren Schwager Friedrich (Fritz):
Chausseearbeiter Johann Friedrich B., geb. 26.04.1858 in Niederscheld und
Witwe des Christian Heinrich B., Hermine Louise, geb. Sch. am 18.04.1871 zu Ballersbach
Trauzeugen waren:
Zigarrenmacher Georg St., 46 Jahre alt und Zigarrenmacher Heinrich St., 41 Jahre alt.
Dass das Gewerbe der Nagelschmiede schon keine gesicherte Existenz mehr bot,
zeigt sich darin, dass Fritz B. diesmal den Beruf eines Straßenarbeiters ausübte.
Später wird er als Hütten- und Hochofenarbeiter benannt.
Dem August Heinrich Sch. und dessen Ehefrau Marie Elisabeth, geb. R. aus Fellerdilln
starb am 27. April 1905 eine kleine Tochter, genannt Henriette, welche am 16. Februar 1904 geboren war.
Im ganzen hatten sie sieben Töchter und einen Jungen.
Nach dem Niederschelder Sterberegister von 1910 zeigt der Hüttenarbeiter Friedrich (Fritz) B. an,
dass am 18. Mai 1910, 76 Jahre alt, Peter B. kath., starb. Sohn des Nagelschmiedes Johannes B. und der Gertrud B.
Er starb nachmittags gegen 5 Uhr in seinem Haus am Hammerweg.
Als der alte Peter B. 1910 verstarb, waren seine Vermögensverhältnisse so ungeklärt,
dass das Haus am Hammerweg (später Haus Metz) und ein Acker im Rödenbach versteigert wurden,
um noch ausstehende Gerichtskosten zu begleichen.
Damals ersteigerte Ph. August Nix (der auch diese Angaben machte) das Haus, ließ aber weiter die Familie B. dort wohnen.
Mitte der dreißiger Jahre wurde das Anwesen renoviert,
und im Jahre 1938 von Franz Behaghel und Ehefrau Lilli, geb. Nix, bezogen.
Bei den Bombenangriffen im 2. Weltkrieg wurde das Haus völlig zerstört.
1948/49 kaufte mein Schulkamerad Walter Metz das Grundstück
und baute auf den vorhandenen Grundmauern ein neues Haus, welches er 1950 bezog.
Im Niederschelder Sterberegister 1917 steht, dass der Hochofenarbeiter Friedrich (Fritz) B., evang.
am 25. November 1917, nachts um 2 Uhr verstorben sei in seiner Wohnung.
Er war 59 Jahre alt geworden. Angezeigt wurde dies von seiner Frau Hermine Louise B., verw. B. geb. Sch.
Das Dillenburger Sterberegister von 1930 enthält folgende Eintragung:
Der Pförtner Theodor B.jr. zeigt an,
dass seine Mutter Hermine B. geb. Sch. verh. mit dem verstorbenen Friedrich B.,
am 27. Juni 1930 vormittags sechseinhalb Uhr in Dillenburg, Rühlstr. 20 (Krankenhaus) verstorben ist.
Sie war bei ihrem Tod 59 Jahre alt.
Friedrich (Fritz) und Hermine B. hatten drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter.
Vermerk:
aus Sammlung Brigitte Höncher
Aufsatz persönlich von A.W. Brück nach Veröffentlichung in "Heimatblätter 1980" erhalten
Die in der Einleitung erwähnte Elisabeth Schumacher, geb. Christ
(20.11.1847-27.04.1938) ist
Urgroßmutter von Arno W. Brück, mütterlicherseits
Urgroßmutter von Elli Höncher, geb. Breidenstein, mütterlicherseits
Ururgroßmutter von Brigitte Höncher
Schriftliche Quellen:
Akten der Preußischen Strafkammer Wetzlar
Begräbnisbuch der evang. Kirchengemeinde, Niederscheld
Civilstandsregister des Standesamtsbezirkes Niederscheld
Limburger Anzeiger, Jahrgang 1889
Heimatkundl. Beilage des Weilburger Tageblattes
Chronik Niederscheld v. A.W. Brück
Heimatjahrbuch, Erich Zimmermann, Siegfried Holler, Ulrich Heuser, Otto Zimmermann, Werner Zila
Zeitung für das Dillthal, heute Dill-Zeitung, Jahrgang 1889, besonders Mai bis August
Mündliche Angaben, Quellen und Mitteilungen:
Heinrich Buckard, (1904-1972)
Oskar Buckard, geb. 2.12.1901. Er war der allerletzte, angelernte Nagelschmiednach dem 1. Weltkrieg in Niederscheld
Lilli Behaghel, geb. Nix , geb. 17.03.1918
Albert Breidenstein (Hausname Stolls), (geb. 27.10.1898 in Niederscheld, gest. 17.03.1975 in Fischelbach)
Amalie Gerdt, verw. Hild, geb. Buckard, geb. 29.11.1896 (stammt aus einer Nagelschmiede-Familie)
Erich Kolb, (16.06.1900-17.10.1969)
Oskar Kolb, geb. 26.10.1903
Anna Krauskopf, geb. Schumacher, (geb.26.09.1887 in Niederscheld, gest. 28.08.1976 in Hochheim/Ts.)
Alois Leuninger, Arbeitsgerichtsrat i.R., Mengerskirchen, geb. 24.12.1902
Dr. Karl Löber, Haiger, geb. 19.09.1901
Wilhelm Hermann Heinrich Maage (04.03.1869-12.11.1939)
Lina Maage, geb. Schumacher, (29.07.1873-05.01.1952)
Hilde Metz, geb. Weigel, geb. 22.09.1926
Walter Metz ,(08.11.1927-07.10.1976)
Phil. August Nix, (21.06.1877-11.01.1973)
Karl Peter, sen. Steiger und Altbürgermeister, (22.08.1880-20.07.1953)
Heinrich Rompf, Lehrer ,(14.03.1889-13.07.1963)
Amalie Schmidt, geb. Volkert, geb. 22.01.1896
Johannette Elisabethe Schumacher, geb. Christ (20.11.1848-27.04.1938)
(Meine Urgroßmutter, welche mir als Erste von der Tragödie erzählt hat)
Karl Volkert, (20.11.1868-21.03.1962)
Elli Weil, geb. Schneider, geb. 03.01.1919