Erste Luftangriffe auf Niederscheld  



Im Laufe des Sommers 1944 - nach der Invasion in der Normandie -
ertönte wohl oft die Luftschutzsirene und schreckte die Menschen aus ihrer Ruhe,
aber an eine ernsthafte Gefahr glaubte niemand. Einzelne Bombenabwürfe,
wie im Mai 1940 bei der Isabellenhütte Dillenburg
oder in 1941 in der Nähe des Hochofens in Oberscheld
oder auch Warnungen des Rüstungskommandos in Gießen an die ansässigen Betriebe,
z.B. über feindliche Langzeitzünderbomben und US-Gleitminenbomben wurden zur Kenntnis genommen,
doch nicht in ihrer Schwere erkannt.
Abends kreiste ein Beobachtungsflugzeug über die Gegend und zwang zur totalen Verdunkelung.
Der Volksmund nannte diesen Störenfried den "eisernen Heinrich oder auch "eisernen Gustav".

Über den ersten Fliegerangriff schrieb Lehrer Heinrich Rompf:
"Ein Flieger kam tief über das "Gleichen"
und hat sich mit Bordwaffenbeschuß auf einen Güterzug gestürzt, der in Richtung Dillenburg war.
Der Zug hat sofort gebremst und Lokführer und Heizer suchten Deckung an der steilen Böschung".

Ab diesem Zeitpnkt hat man mit Tiefflieger-Angriffen auf die Bahnlinie und Straßen rechnen müssen.
Fußgänger und Autos wurden beschossen, sowie auch die Leute auf den Feldern.
Auf der Burger Landstraße wurden durch feindliche Jäger im MG-Feuer zwei Menschen getötet.

Die Schelder Eisenbahner Otto Sommer und Ernst Pfeifer kamen bei einem Angriff, am 9. September 44, auf dem Bahnhof Haiger ums Leben.

Die verheerende Wirkung von Bomben lernten die Niederschelder aus nächster Nähe im Herbst 1944 kennen.
Altbürgermeister Hofmann (Preise Karl) hat in seinem Tagebuch unter der Überschrift "Zweimal pochte der Tod" darüber berichtet:
"Es war am 19. September 1944, als wir an der Kartoffelernte im Lepperstal tätig waren.
Ein über uns ziehendes Luftgeschwader gab den mit der Ernte beschäftigten Personen Veranlassung,
in einer nahen Hecke Schutz zu suchen, während ich den Zugtieren zur Seite blieb.
Als die ersten Bomben fielen, verdüsterte sich das Blickfeld, eine dicke Staubschicht nahm jede Sicht.
Als ich mich von dem ersten Schrecken erholt hatte, waren die Zugtiere seitlich abgeirrt.
Mein Grundstücksnachbar Rudolf Ebert,
etwa 30 Meter von mir entfernt,
hatte auf einem Handwagen gesessen,
lag nun um und gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich.
Er war wohl von einem Splitter getroffen worden.
Trotz aller Bemühungen seiner Ehefrau starb er nach wenigen Minuten an Ort und Stelle.
Meine Ehefrau und unsere Hilfskräfte waren schon heimgeeilt.
Unsere beiden Zugtiere waren verletzt, die eine Kuh gehörte meiner Cousine, OttilieMeyer.
Eine Kuh wurde am folgenden Tag notgeschlachtet".


Ein weiteres Drama spielte sich auf dem Herrnacker ab.
Dort war die Familie Emil Nix bei der Kartoffelernte vom Angriff überrascht worden.
Die Tochter Alice, als Frontschwester schon oft in Gefahr gewesen, war in Urlaub,
half ihren Eltern bei der Ernte und wurde getötet, andere Familienangehörige verletzt.
Nach diesem schrecklichen Ereignis wurde die Feldbestellung am frühen Morgen oder abends vorgenommen.

Am 19. September 1944 erfolgte der erste direkte Angriff auf die Adolfshütte.

Aus den Protokollen der Adolfshütte:
"Am 19. September 1944 war, wie schon seit Wochen,
eine äußerst lebhafte Fliegertätigkeit im westdeutschen Raum wahrzunehmen.
Der Vormittag war ruhig verlaufen, jedoch gegen Mittag setzten laufend stärkere Flüge ein.
Alle diese feindlichen Einflüge berührten unsere Gegend weniger, bis 14.19 Uhr die Meldung kam,
dass 40 Feindmaschinen von Limburg über Westerburg den Raum Altenkirchen-Betzdorf anfliegen würden.
Daraufhin wurde von der Werksschutzleitung sofort Fliegeralarm im Werk angekündigt.
Inzwischen hatten die Flieger bei Westerburg Ostkurs genommen,
sodass sich die aktuelle Fliegergefahr weiter verschärfte.
Die Belegschaft suchte sofort nach Ertönen des Alarmsignales die Luftschutzräume auf.
Die Belegschaft war in Sicherheit gebracht, als der gemeldete Verband unser Gebiet überflog.
Nachdem fast eine Stunde ein sehr intensiver Luftverkehr in der näheren Umgebung stattgefunden hatte, setzten Rückflüge ein.
Um 15.13 Uhr wurde von der Warnzentrale Vorentwarnung durchgegeben.
Im gleichen Moment aber vernahm Herr Bernhard Rolfes (Leiter der Unternehmens)
ein starkes Fliegergeräusch aus südlicher Richtung, das sich zunehmend verstärkte,
bis dann in nächster Sekunde ein Verband von 36 viermotorigen Bombern aus Richtung Gießen kommend sichtbar wurde.
Es war der Verband, der kurz vorher in einer Höhe von etwa 5000 Metern
bei bester Sicht das Werk von Südwest nach Nordost überflogen,
bei Marburg auf Südkurs gedreht und die Bahnanlagen von Lollar, Gießen und Wetzlar angegriffen hatte.
Jetzt im Augenblick flog der Verband von Gießen kommend
etwa mit Ziel Wilhelmsturm in gleicher Höhe wie vorher.
Plötzlich ein Ruf der Beobachtung (auf dem Kap):
"Rauchsignale, Bomben fallen, alles in Deckung!"
Kaum gesagt, löste sich auch schon die Masse der Bomben
mit donnerndem und prasselndem Getöse auf das Werk,
die Bahnanlagen und das anliegende Feld des Lepperstales.
Und dann im Abstand von wenigen Sekunden eine zweite Abwurflage. Die Flieger zogen ab.


Wie wichtig es war, dass die Belegschaft noch im Bunker verblieb,
geht daraus hervor, dass etwa 15 Minuten nach erfolgtem Angriff auf das Werk
aus gleicher Richtung ein schwächerer Verband von 20 viermotorigen Bombern kam,
Dillenburg überflog und über Haiger Bomben abwarf"(Rein).

Bei diesem Angriff wurden auf der Adolfshütte drei deutsche Arbeiter, ein Ostarbeiter und ein russischer Kriegsgefangener getötet.
Fünf deutsche Arbeiter, zwei Ostarbeiter und zwei französische Zivilarbeiter wurden mehr oder weniger schwer verwundet.

Auf dem Werksgelände konnten 23 Sprengbomben
in unmittelbarer Werksnähe 33 Sprengbomben
Bahngelände und weiterer Entfernung 186 Sprengbomben
zusammen: 242 Sprengbomben gezählt werden.

Nun wurden die noch im Bau befindlichen Beobachtungs- und bombensichere
Bunker und Stollen der beiden Hüttenwerke in großer Eile fertigestellt.
Auch an verschiedenen Stellen des Ortes wurden Stollen in die Erde getrieben oder auch vertieft,
so ein Stollen am Happelrain bei der großen Buche,
ein Gang hinter dem Friedhof bei den "Gelben Bäumchen" und auch am Anfang der Alleestraße.
"Es gab fast jeden Tag Alarm.
Die Leute flüchteten dann in die Keller und Bunker.
Am 3. November war wieder ein Angriff auf die Adolfshütte und die Bahn nach Oberscheld" (Rompf).

Bomben fielen auch am 5.12. auf die Schelder Gemarkung.
"Bereits um 8.59 Uhr kamen die ersten Meldungungen über Einflüge feindlicher Flugzeuge.
Um 10.02 Uhr kam die Meldung von 10 Feindmaschinen im Raum Andernach mit östlichem Kurs.
Um 10.03 Uhr wurde Luftgefahr durchgegeben.
Im Raum Wetzlar-Gießen änderten die Flieger den Kurs und flogen in den Raum Dillenburg-Gladenbach ein.

Nachdem sie das Werk schon überflogen hatten und von der Warnzentrale noch die Meldung kam,
dass die Flieger im Raum Biedenkopf-Berleburg seien, wurde von unserer Werksbeobachtung durchgegeben,
dass die Flugzeuge gedreht hätten und über uns kreisten.
Eine direkte Gefahr für das Werk Adolfshütte vermutend,
wurde werksseitig sofort um 10.17 Uhr Alarm ausgelöst, also 8 Minuten früher, als die öffentliche Alarmdurchgabe.
Als diese durchgegeben wurde, waren bereits alle Belegschaftsmitglieder im Luftschutzkeller untergebracht
und unmittelbar darauf fielen auch schon die Bomben.
Es war nicht klar ersichtlich, ob der Angriff dem Werk Adolfshütte galt
oder dem angrenzenden Rangierbahnhof Dillenburg,
von dem ein dort stehender Flakzug das Feuer auf die Flugzeuge eröffnete und diese von da abhielt.

Der Abwurf der Bomben erfolgte im Einzelanflug;
es wurden jeweils 2 Bomben von etwa 250 Kg abgeworfen.
Blindgänger wurden nicht beobachtet.
Die Jagdflieger umkreisten das Werk und den Bahnhof Dillenburg längere Zeit,
um die günstigste Anflugsposition zu ermitteln.
Der Abwurf der Bomben erfolgte zunächst aus einer Höhe von 600 bis 800 Metern von Südosten
in Richtung auf den Lokomotivschuppen des Bahnhofs Dillenburg.
Daraufhin erfolgte der zweite Anflug aus der gleichen Richtung mit Abwurf auf den Südteil des Werkes und Bahngleise nach Oberscheld.
Nun setzte das Feuer des Flakzuges ein, worauf der Bombenabwurf in kurzer Folge auf den nördlichen Teil des Werkes erfolgte (4 Bomben).
Anschließend wurde der nächste Angriff mit Bombenabwurf auf die Hochspannungsleitung durchgeführt.
Der letzte Abwurf galt dem noch vorhandenen Flakzug, wobei ein Güterwagen in Brand gesetzt wurde.
Danach gingen die Flugzeuge auf Höhen über 1000 Meter, umkreisten das gesamte Werksgelände nochmals
und flogen in südwestlicher Richtung ab.
Die die Gefolgschaft rechtzeitig in den Schutzräumen war, wurden keine Personen verletzt"(Rein).


Anmerkung:
Seit dem 19. September 1944 folgten bis zum Kriegsende noch 35 Angriffe,
davon 28 gezielte Großangriffe mit schweren und schwersten Bomben und Luftminen.
Beim Einzug der Amerikaner war das Werksgelände nur noch ein einzelner Trümmerhaufen. (Protokoll Adolfshütte)

Quelle:
Chronik Niederscheld